Frei sein


Datum: 07. April 2021
Autor: Susanne von Mach
Schlagwörter: Auswandern Brasilien Neuanfang

Es war nicht dieser Moment, in dem Facundo Lopez in seinem Auto saβ und die Pistole am Kopf hatte. Nicht, als er den Diebstahl seines Wagens melden wollte und der Polizist nur müde lächelte. Seien schon mehr als 60 Raubüberfälle heute gewesen, Aufklärung schier aussichtslos. Es war auch nicht der Moment, als sein Sohn geboren wurde und Facundo Lopez wusste, dass auch sein eigenes Kind irgendwann die Todesangst erleben könnte, die er selbst nicht vergessen kann. Dieser eine Schlüsselmoment, in dem er wusste: Es reicht jetzt, Brasilien ist nicht mehr mein Land. Der kam nicht. Seine Entscheidung nach Deutschland auszuwandern war ein Prozess. Schwierig. Langwierig. Denn trotz der Angst ging es ihm mit seiner Familie in Brasilien nicht schlecht.

Wohin also gehen, wo das Leben auf jeden Fall besser sein wird? Sicherer? Sein Geburtsland Argentinien kam für Facundo Lopez nicht in Frage. Raubüberfälle sind dort seltener als in Brasilien. „Doch die Kriminalitätsrate ist trotzdem hoch und das Land wirtschaftlich zu instabil, um dort neu zu starten.“ Damit fiel ganz Südamerika als neue Heimat weg. Deutschland war ihm schon immer nah. Es ist das Land seiner Vorfahren. Doch geografisch ist es weit, weit weg von Brasilien. Ein ganzer Ozean, eine halbe Welt, 10.000 Kilometer, 15 Flugstunden. Will man das wirklich?
„An meinem Geburtstag habe ich mir eine Auszeit genommen. Vier Tage an einem schönen Rückzugsort, alleine, ohne Familie, ohne Internet, viel Ruhe, viel Zeit zum Nachdenken.“ Viviana wäre schon längst gegangen, obwohl sie kein Wort deutsch spricht und er flieβend. Man muss das können, auswandern. „Ja“, sagt Facundo und tippt an die Stirn. „Hier muss man es können.“ Rund 1,1 Millionen Menschen konnten es laut Statistikbehörde Destatis im Jahr 2020 und wanderten nach Deutschland ein; drei von ihnen sind Facundo und seine Familie.
Der Überfall ist zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre her. Nach den vier Tagen intensiven Nachdenkens ist Facundo Lopez entschlossen. Und seine Frau glücklich. Sie verkaufen fast alles, Auto, Möbel, lösen ihr altes Leben auf, bereiten ihr neues Leben vor. Sie haben gespart, der Start in Deutschland sollte damit gut gelingen.
Seit November leben die Lopez nun in Unterfranken.
Dass die Corona-Pandemie on top kam, habe seine Entscheidung nicht beeinflusst, sagt der 39-Jährige, obwohl Brasilien beim Management der Pandemie im internationalen Vergleich nicht gut dasteht. Der gröβte Staat Südamerikas ist unter den vier Nationen mit den höchsten Infektionszahlen weltweit, bereits mehr als 300.000 Brasilianer sind an Covid-19 verstorben. Es war nur schwieriger mitten in der Pandemie auszuwandern. Erst einmal Quarantäne in Deutschland, alles dauert länger, neue Kontakte sind schwieriger. Trotzdem: „Es war die richtige Entscheidung.“
Ein Cousin in Kleinostheim hat die Familie in ihren ersten Monaten in seiner Einliegerwohnung wohnen lassen. Die Cousins haben denselben Groβvater. Dessen Vater war als junger Mann aus dem Münchner Raum nach Argentinien ausgewandert. Auch eine Urgroßmutter und Groβmutter – die spätere Frau des Groβvaters – stammt aus Deutschland. Sie war ein winziges Baby, als ihre Eltern im Jahr 1932 aus Leipzig nach Südamerika kamen. In der Provinz Misiones ganz im Nordosten fanden sie eine neue Heimat, dort, wo Argentinien an Paraguay und Brasilien grenzt. Die Groβeltern wuchsen dort in einer Kolonie auf, die ein deutscher Auswanderer im Jahr 1919 gegründet hatte. Eldorado nannte er sie. Nach dem Urgroβvater ist heute eine Straβe benannt, die Pionier Simon Eibl-Straβe.
Auch Facundo Lopez ist in Misiones aufgewachsen. In Eldorado besuchte er die deutsche Schule, Instituto Hindenburg heiβt sie, die Groβmutter sprach deutsch mit ihm. Als 17-Jähriger ging er für ein Vierteljahr zum Schüleraustausch nach Deutschland, zu der Familie in Weingarten im Landkreis Karlsruhe hat er heute noch Kontakt. Später studierte Facundo Lopez an der Nationalen Universität von Misiones Ingenieurwissenschaften und lernte seine Frau kennen. Gemeinsam gingen sie nach Brasilien; sie ist Buchhalterin und arbeitete im argentinischen Konsultat von Porto Alegre, er hatte ein Stipendium. 680 Kilometer sind es von Misiones in die brasilianische Millionenmetropole. Sie liegt an einer Bucht, der Zusammenschluss dreier Flüsse geht über in den Atlantischen Ozean. Porto Alegre gilt nicht als touristisches Highlight, aber als wirtschaftliches und kulturelles Zentrum Südbrasiliens. Mittelpunkt einer Metropolregion aus 30 Städten und mit insgesamt fast 4,5 Millionen Bewohnern.
Eigentlich hatte Facundo Lopez nur für die zwei Stipendienjahre nach Porto Alegre gehen wollen, doch dann wurden es 14. Mit einem Freund gründete er dort eine Firma, Simeros Technologies. Sie entwickelt Produkte und Testungen für Offshore Energie, zum Beispiel flexible Pipelines. Bei Offshore Energie denken Deutsche an Windenergie, Brasilianer an Öl und Gas: ein Boom-Geschäft und Wachstumssegment dort.
„Brasilien zählt zu den wichtigsten Öl- und Gasproduzenten weltweit“, heiβt es bei der Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer, die deutsche Unternehmen beim Markteintritt in Brasilien unterstützt. „Das größte Potenzial von Brasilien liegt in den sogenannten Pre-Salt Öl- und Gasfeldern im Tiefwasserbereich, den weltweit wichtigsten und größten Ölfunden der letzten zehn Jahre.“ Genau dort, wo Facundo Lopez und sein Partner mit ihren Produkten und Entwicklungen agierten. Die zwei hatten den richtigen Riecher für ihre Geschäftsgründung. „Wir sind im Jahr 2009 zu zweit gestartet, jetzt haben wir ungefähr 100 Mitarbeiter“, sagt der 39-Jährige. Auch wenn er Mitinhaber der Firma bleibt, wird er nicht von Deutschland aus als Geschäftsführer agieren. „Mit der Zeitverschiebung wäre das zu schwierig.“ Brasilien ist fünf Stunden hinter der Mitteleuropäischen Zeitzone; wenn es in Deutschland 12 Uhr mittags ist, ist es in Porto Alegre erst sieben Uhr morgens.
Eine groβe Firma, ein schönes Haus, viele Freunde: Es lief gut in Brasilien. „Wir hatten ein gutes Leben“, sagt Facundo Lopez. Er ging gerne Windsurfen, die Bedingungen in der Bucht von Porto Alegre sind dafür ideal. Das Wetter ist vergleichbar mit Südeuropa, warme Sommer, kühle Winter. Und weil das eben alles so war, tat Facundo Lopez sich so schwer mit seiner Entscheidung auszuwandern. Obwohl er Todesangst hatte, als er im Auto saβ, die Pistole am Kopf.
„Aber dann habe ich mich gefragt, was es bringt, immer noch mehr Geld zu verdienen und in immer noch mehr Sicherheit zu investieren“, sagt er. „Natürlich kaufst du davon elektrische Fenster, du hast eine Kameraüberwachung, hohe Mauern um dein Haus. Du kannst ein gepanzertes Auto fahren, Sicherheitspersonal anstellen. Aber du fühlst dich wie im Gefängnis.“ Sich nie völlig frei bewegen zu können: Es fiel ihm schwer sich das für sein ganzes Leben vorzustellen.
„Wenn Du in Brasilien erzählst, dass Dein Handy gestohlen worden ist, dann ist niemand schockiert“, sagt Facundo Lopez. „Alle fragen, wo es Dir geklaut wurde. Und dann fragen sie dich, warum du dorthin gegangen bist. Als seist Du selbst schuld.“ Jeder weiβ, wie er sich verhalten muss, damit eben genau das nicht passiert: Überfallen, ausgeraubt, ermordet werden. Trotzdem passiert es.
„Es war kein besonderes Auto“, sagt Facundo Lopez. „Es war ein Ford Focus, aber neu. Der Räuber war nicht jung, und er war erfahren. Ich habe ihm den Schlüssel gegeben und gesagt: Okay. Okay. Nimm alles. Nimm mein Auto. Aber was wäre gewesen, wenn er kein Profi gewesen wäre?“
496 Raubüberfälle pro 100.000 Einwohner registrierte die Statistik für Brasilien in 2015, dem Jahr, indem auch Facundo Lopez überfallen worden ist. Umgerechnet auf die Einwohnerzahl – 204,5 Millionen in 2015, macht das durchschnittlich 2800 Raubüberfälle am Tag. Das Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung der Vereinten Nationen, UNODC, ermittelt solche Zahlen. In Deutschland gab es laut des deutschen online-Portals Statista in 2015 44.666 Raubdelikte. Im gesamten Jahr. Das macht etwa 122 am Tag. Ein Bruchteil dessen, was in Brasilien passiert. Auch die Mordrate ist dort hoch: 160 Menschen pro Tag wurde im Jahr 2015 ihr Leben genommen. In Deutschland waren es laut Statista 2116. Im gesamten Jahr, etwa sechs Mordopfer sind das am Tag. Porto Alegre zählt laut Auswärtigem Amt zu den besonders gefährlichen Städten Brasiliens.
„Warum soll ich Geld verdienen? Um ein Auto zu kaufen, das mir sofort wieder gestohlen wird?“ Oder für das er mit dem Leben bezahlen muss. Viele Brasilianer kennen Menschen, die ermordet worden sind. Facundo Lopez hätte auch tot sein können. Das kann er nicht vergessen. Und vor allem will er nicht: Dass eines Tages sein Kind etwas passiert.
Sein Sohn hat den Ausschlag gegeben. Seine Entscheidung für Deutschland hat er getroffen, um seinem Kind ein freies, sicheres Leben zu ermöglichen. Die Freunde, die Familie, sie hätten alle verstanden, dass sie auswandern, erzählt Facundo Lopez. Sie sind ja nicht die ersten, die gehen.
Jetzt suchen die Lopez ihren Platz in Deutschland irgendwo „im Dreieck zwischen Freiburg, Frankfurt und München“. Übergangsweise wohnen sie mittlerweile in Laufach. Viviana arbeitet als online-Yogalehrerin und Ayurveda-Therapeutin, sie hat weltweit Kunden. Facundo Lopez will sich einen Job im Erneuerbare Energien-Sektor suchen, Windenergie vielleicht. Er hat schon einmal geschaut, es gibt Stellen, die ihn interessieren.Alle Papiere sind jetzt beisammen, „das hat alles etwas gedauert“, Krankenkasse, Versicherungen, die Aufenthaltserlaubnis für Viviana. Er selbst hat schon die deutsche Staatsbürgerschaft, durch seine deutschen Groβeltern. Wie auch sein Sohn.
Wenn Viviana den Integrationskurs absolviert und die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen hat, wird die Familie zum ersten Mal die gleiche Staatsangehörigkeit haben. Im Moment ist Viviana Argentinierin, Facundo Deutsch-Argentinier und ihr Sohn Deutsch-Brasilianer, weil er in Brasilien auf die Welt gekommen ist. Ein gutes Omen für einen Neuanfang.