Ganz nah dran


Datum: 24. February 2021
Autor: Susanne von Mach
Schlagwörter: Fotografie Corona

Keine Braut hat im vergangenen Jahr 15 Minuten vor der Trauung das Handtuch geworfen. Kein Paar hat sich vor der Kamera gestritten, keines sich direkt nach der Hochzeit wieder getrennt. Aber viele Bräute haben geweint, verzweifelt. Viele Paare wussten manchmal Stunden vor dem groβen Tag noch nicht, ob und wie sie ihn feiern dürfen. Christine Sauer ist immer mittendrin in all den überwältigenden Gefühlen. Als Fotografin ist sie ganz nah dran am groβen Glück, „manchmal fast zu nah“, sagt sie. Corona hat diese Nähe potenziert, weil die Emotionen stärker, die Extreme gröβer, die Tränen zahlreicher waren. Trotzdem war Christine Sauer in 2020 froh um jedes Fest, das gefeiert werden durfte, denn jedes Shooting ist für sie ein Job, egal ob Brautpaar, Baby oder Beauty.

Fotografen gelten vor dem Gesetz als Handwerker. Das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege hat Fotografen in der Corona-Pandemie als unverzichtbar für die tägliche Versorgung eingestuft; neben dem Anfertigen von Pass- und Bewerbungsfotos im Studio dürfen sie unter freiem Himmel fotografieren. „Das geht natürlich bei Minustemperaturen nicht“, sagt Christine Sauer. Eine einzige Schwangere hat im Corona-Winter drauβen posiert. Doch als Fotograf darf man zur Berufsausübung das Haus verlassen, Shootings in Privathaushalten sind nicht untersagt. Deshalb fotografiert Christine Sauer jetzt Neugeborene als Homestory statt im Studio. Ein hoher Aufwand, büttenweise schleppt sie ihr Equipment zu den Jung-Eltern. Sie macht es natürlich trotzdem.
Manche munkeln, die Corona-Krise werden nur die Billigsten in der Fotografenbranche überleben. Und die Besten. Irgendwann wird sicher wieder geheiratet werden, auch im ganz groβen Stil. Doch wer mit Shootings Geld verdient, muss diese Zeit überbrücken – oder ein zweites Standbein haben. Christine Sauer ist recht froh, dass sie nicht allein auf glückliche Paare spezialisiert ist, ein zweites Standbein hat, sonst könnte sie heute wohl eher nicht über den ersten Lockdown scherzen. „Er kam mir nicht völlig ungelegen“, sagt die 43-Jährige und lacht. Sie hatte endlich Zeit. Zeit, die Foto-Platzhalter zu Hause in Hösbach durch Familienbilder zu ersetzen, den Keller zu streichen.
Doch das Lachen verging ihr, als ihr gröβter Kunde aus ihrem „anderen“ Berufsleben absprang.
Schon lange bevor sie zu fotografieren begann, hatte sie eine irre steile Karriere als Beraterin, Grafikerin und IT-Spezialistin für Katalog-Prozesse. Ein Senkrechtstart von der Auszubildenden zur Teamleiterin, Managerin, Projektmanagerin für das Europa-Geschäft ihrer Firma. Christine Sauer jettete viele Jahre von Deutschland nach England nach Holland, immer auf der Überholspur. Stunden auf der Autobahn, lange Tage im Hotel. Nach Feierabend kümmerte sie sich um ihre Privatkunden, entwarf Homepages, Flyer, Kataloge. Sie hatte keine Zeit für Familie, Freunde sah sie kaum.
Bis sie nicht mehr konnte, nicht noch mehr Aufgaben, nicht immer höher hinaus. Sie nahm vier Wochen Urlaub, reiste durch die Welt und sah im Himalaya das Leben der Tibeter. Es wirkte so entschleunigt. „Das hat mich total beeindruckt. Ich habe mich gefragt, was ich selbst noch erleben will.“ Einen Partner, Familie, ein Kind, mehr Ruhe, Zeit für Freunde. Christine Sauer geht erst in die Teilzeit, das fühlte sich nicht richtig an. Also Freiberuflichkeit. Und der Start in eine zweite Karriere als Fotografin. Das konnte sie schon immer gut, sie hat einen künstlerischen Blick und ein gutes Händchen für Menschen. Ursprünglich wollte sie mal Hauptschullehrerin werden, das Studium hatte sie schon in der Tasche. Der Reiz des Digitalen aber war stärker.
Niemandem ihrer Foto-Kunden erzählt sie, was sie vorher gemacht hat. Keinem der alten Kontakte, die sie als Freie weiterbetreut, was sie jetzt macht. „Ich hatte Angst, dass meine Grafik-Kunden mich nicht mehr für voll nehmen, wenn sie hören, dass ich auch Neugeborene fotografiere. Und ich hatte Angst, dass meine Hochzeitskunden mich nicht mehr buchen, weil ich wegen meines Zweit-Berufs vielleicht keine Zeit habe ihre Bilder gut genug zu bearbeiten.“
Es schien auch nicht so wichtig, dass jeder alles weiβ. Bis Corona kam, die Aufträge storniert wurden, der wichtige Kunde absprang. Viel freie Zeit, die es auf einmal zu füllen gilt. Viele Fragen, wie es weitergeht. „So eine Lücke lässt sich jetzt nicht so schnell schlieβen“, sagt Christine Sauer.
Mit Lücken kennt sie sich aus. Im zurückliegenden Jahr hat Christine Sauer lange mit Brautpaaren gesprochen, die nicht wussten, was überhaupt noch möglich ist, wie eine Feier schön werden könnte. Sie hat ja gesehen, wie andere das managen. „Eine solche Beratung hat vor Corona überhaupt keine Rolle gespielt, jetzt ist es plötzlich total wichtig.“ Wenn ihr ein Brautpaar erzählt, dass die gebuchte Location Insolvenz angemeldet hat und 2000 Euro Anzahlung einfach futsch sind, lässt sie das nicht kalt. Dann ist sie mittendrin in den groβen Gefühlen. Trotzdem berechnet auch sie jetzt eine feste Anzahlung. Früher war ihr das nicht so wichtig.
Was hat sie jetzt vor? Sie versucht stärker zu integrieren, neue Wege zu gehen. Hat einen Coach engagiert, der sie auf neue Gedanken bringen soll. Christine Sauer hofft auf den Sommer, auf die Zukunft. Sie ist sicher, es wird alles irgendwann weitergehen. Tibetische Gelassenheit.