Ganz schön bitter


Datum: 10. March 2021
Autor: Susanne von Mach
Schlagwörter: Unternehmerin Essen Aschaffenburg

Als auch noch die Frankfurter Bauarbeiter wegbleiben, versteht Vera Hausen-Ax die Welt nicht mehr. Es wird doch nicht etwa daran liegen, dass sie in ihrem Foodtruck statt selbstgekochter Bio-Kartoffeln mit Fleisch von glücklichen Kühen ausnahmsweise Convenience aus der Tüte angeboten hat? Bio zwar, aber trotzdem ein echter Bruch mit ihren Prinzipien?

(War auch keine gute Idee, sagt sie im Nachhinein.) Doch nein, es ist ganz einfach: Ramadan. Auch das noch. Schon wieder hat Vera Hausen-Ax nichts zu tun. Für eine Corona-Pandemie hat sie einen nicht ganz optimalen Job: Die Aschaffenburgerin bekocht mit einem 20-köpfigen Team Schulklassen und Kindertagesstätten in Aschaffenburg und Umgebung. „Veras Vitamin-Reich“ ist einer der gröβeren Schul-Caterer in der Region (und der Foodtruck das „Hobby“ on top).
Die Inzidenz – eine Herausforderung
Ein Jahr nach Beginn der Pandemie kann Vera Hausen-Ax über die Ramadan-Episode zwar lachen, aber auch nur halb. Denn solange Schulen und Kindergärten nicht wieder voll öffnen, kann auch sie ihren Betrieb nicht in Gänze hochfahren. Die immer neuen Regelungen je nach Inzidenzwert stellen das Vitaminreich vor echte Herausforderungen. „Allein in der ersten Märzwoche sind wir drei Mal vom Regelbetrieb in die Notbetreuung und wieder in den Regelbetrieb gegangen“, sagt Vera Hausen-Ax.
Sie kommt wirtschaftlich über die Runden, weil ihr Team immer wieder in Kurzarbeit ist, aber die 53-Jährige hat den Gürtel oft eng geschnallt im vergangenen Jahr, und ins laufende Jahr wagt sie nicht ihre ganze Hoffnung zu setzen.
Mehr als 2000 Essen verlassen in guten Zeiten die Küche hinter der unscheinbaren Feuerschutztür einer Mehrzweckhalle in Aschaffenburg-Schweinheim. Jungen und Mädchen in etwa zwei Dutzend Kindertagesstätten warten jeden Tag auf Makkaroni mit Kürbis-Möhrensauce, Gulaschsuppe oder Käsespatzen. Zwei Schulkantinen in Aschaffenburg hat „Veras Vitaminreich“ zusätzlich gepachtet. Eigentlich ein funktionierendes Geschäftsmodell. „Meine Kunden sind sehr treu“, sagt Vera Hausen-Ax. Kinder und Schüler mögen das Essen, und sicher nicht, weil es Bio ist, sondern weil es schmeckt.
Selbst ist die Köchin
So war Vera Hausen-Ax damals angetreten, vor acht Jahren. Das Essen in der Mensa ihres Schulkinds fand sie nicht gut. „Dann machen Sie es doch selbst!“, empfahl die genervte Direktorin, und genau das tat die schimpfende Mutter dann auch. Nicht etwa, dass sie etwa Köchin gewesen wäre. Sie konnte nur kochen – und hatte eine Vision. „Aber ich wusste: Das ist es!“, erinnert sich Vera Hausen-Ax. Besagte Direktorin erinnert sich nicht wirklich an ihren folgenschweren Satz, wohl aber daran, dass Vera Hausen-Ax mit dem Schulessen nicht zufrieden war. Nach intensiven Diskussionen auch mit dem Elternbeirat habe man sich für einen Wechsel des Schulcaterers entschieden, erinnert sich Petra Münzel. Die Aschaffenburger Kolpingschule wurde der erste Kunde von Veras Vitaminreich.
Schon nach drei Monaten kochte das Vitaminreich 250 Essen, bis zu den heutigen 2000 war es ein kurzer Weg. Mögen die Kinder das Essen? Die entscheidende Frage für Vera Hausen-Ax. Jede Woche befragt sie alle ihre Kunden, um das Gespür dafür zu behalten, was Kinder essen. Wenn braune Linsen nicht schmecken, dann gehen vielleicht gelbe oder rote. „Diese enge Kooperation ist sehr gut“, sagt Petra Münzel. „Und was mir wichtig ist: Ich kann den Kindern das Essen mit gutem Gewissen vorsetzen, weil das Fleisch von artgerecht gehaltenen Tieren stammt und das Gemüse oder Obst ohne Schadstoffe ist.“ Nicht umsonst ist der Wahlspruch des Vitaminreichs: „Wir machen gesunden Appetit!“
Jetzt wird es bitter
Doch als Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am 13. März 2020 vor die Kameras tritt und den Lockdown fürs Weiβwurst-Land verkündet, vergeht Vera Hausen-Ax jeder Appetit. Sie weiβ: Jetzt wird es bitter. Organisations- und krisenerfahren, wie sie ist – vor der Gründung des „Vitaminreichs“ managte sie Bankette in einem groβen Frankfurter Hotel und 1000-Mann-Veranstaltungen für einen Frankfurter Verein – hat sie zwar vorgesorgt. Die Anträge aufs Kurzarbeitergeld für ihr Team liegen fertig in der Schublade. Trotzdem ist es grauenhaft, von jetzt auf gleich nicht mehr arbeiten zu können. „Ich sage immer: Ich habe von allen Küchen den schnellsten Absturz hingelegt.“
Nach Söders Pressekonferenz beruft sie sofort eine auβerordentliche Betriebsversammlung ein und macht ihr Vitaminreich dicht, nicht etwa von Amts wegen, das wird es nie – ein Problem. „Weil wir nie offiziell geschlossen worden sind, hatten wir auch nie Anspruch auf staatliche Unterstützung.“
20 Mitarbeiter, 20 Existenzen
Vera Hausen-Ax schickt ihre 20 Mitarbeiter selbst nach Hause und versucht zu retten, was zu retten ist. An Ware. Die Lager sind ja voll. So oft ist es schwierig, gute und vor allem genügend Bio-Lebensmittel zu bekommen. Bio ist nicht so einfach; mal ist es den Hühnern zu kalt zum Eierlegen, dann wachsen die Kartoffeln nur klein oder werden die Tomaten später reif als geplant. Und jetzt muss alles weg.
Vera Hausen-Ax versucht noch, Obst und Gemüse zu verschenken, doch nicht einmal das Café Grenzenlos, Aschaffenburgs erste Anlaufstelle für Bedürftige, will ihre Lebensmittel, es ist zu viel, es ist Corona. So schnell findet man keinen Abnehmer für Bananen, die 2000 Kinder gegessen hätten. Als der letzte Apfel zu Mus verkocht und der letzte Winkel der Tiefkühltruhe gefüllt ist, wirft Vera Hausen-Ax den Rest in den Müll. Es tut ihr in der Seele weh. Sie fährt nach Hause und weiβ erst einmal nicht weiter. „Ich hatte keine Chance auf einen Gewinn. 20 Mitarbeiter, das sind 20 Existenzen, die an mir hängen.“
Lauter gute Worte
Was jetzt? Acht Jahre Arbeit genauso in die Tonne schmeiβen wie die schönen Gurken und Tomaten? Vera Hausen-Ax schreibt alle Kunden an, dass sie für jede Mahlzeit zur Verfügung steht. Alle Kunden schreiben zurück. „Es gab keinen, der nicht ein gutes Wort übrighatte.“
Und dann fängt sie wieder klein an. Als Kindergartenkinder wieder in die Notbetreuung gehen dürfen, schafft das Vitaminreich es von Null auf Hundert. Hundert Essen am Tag, ein Zwanzigstel der üblichen Ration. Vera Hausen-Ax kocht wieder selbst, wie ganz am Anfang, fährt wieder selbst jede Einrichtung an, und sei es, um drei Mittagessens-Portionen zu liefern. Um mehr arbeiten zu können, packt sie ihren Foodtruck voll und bringt ihr Essen nach Frankfurt zu den Bauarbeitern. „Das war nicht unbedingt wirtschaftlich, aber ich hatte etwas zu tun.“ Tageweise holt sie ihr Team aus der Kurzarbeit zurück, wenn es mehr zu kochen gibt. Für die Eltern „ihrer“ Kindertagesstätten-Kinder startet sie einen To-Go-Service vor ihrer Küche in der Hockstraβe, füllt Thunfisch-Tomaten-Ragout und Kartoffelsuppe in mitgebrachte Töpfe und Schüsseln. Ein Sponsor möchte, dass sie für die Bahnhofsmission in Aschaffenburg kocht, das Geld reicht bis jetzt, bis März. Bis zu 40 Mahlzeiten am Tag liefert sie an Gleis 2. Es sind diese Aufträge, die Wertschätzung ihrer Arbeit, die Vera Hausen-Ax nicht verzweifeln lassen.
Zwischen Wut und Existenzangst
„Im ersten Lockdown hatte ich extreme Existenzängste“, erinnert sie sich. „Im zweiten Lockdown war ich eher wütend, wie mir das alles zum zweiten Mal passieren kann.“ 40 Prozent beträgt ihr Umsatzrückgang in 2020; gerettet haben sie vier gute Monate – zwei, bevor Corona kam, und zwei, als der Herbst eine trügerische Normalität vorgaukelte – und der aufwändige Kleinverkauf.
Vera Hausen-Ax will nicht mehr groβ planen für dieses Jahr. Es kommt, wie es kommt. Wobei, einen Plan hat sie doch, die Leiterin der Bahnhofsmission hat sie darauf gebracht. Mit Prominenten will sie bald einmal im Monat im Vitaminreich deren liebstes Kindheitsessen kochen, gegen eine Spende. Das Geld bekommt die Bahnhofsmission, Warenwert und ihre Zeit spendet Vera Hausen-Ax. Zu zweit in einer Küche, da lässt sich prima Abstand halten. „Kochen ist etwas Sinnvolles“, sagt die Vitaminreich-Chefin. Die Eventbranche hat die 53-Jährige damals verlassen, weil sie den Sinn in der Organisation von 1000-Mann-Veranstaltungen nicht mehr gesehen hatte. Gesundes Essen für Kinder zu kochen erschien ihr wertiger. Sie stürzte sich ins kalte Wasser und lernte, einen Küchenbetrieb zu führen. „Am Anfang war mir nicht klar, was da alles dranhängt und was man alles beachten muss“, erinnert sie sich und lacht über ihre Naivität. Doch es hat immer alles geklappt, und darauf baut sie auch jetzt, in dieser schwierigen Zeit.