Von einem, der auszog, kein Rechter zu werden


Datum: 31. March 2021
Autor: Susanne von Mach
Schlagwörter: Politik

Holger Stenger wirkt am Tag nach der irreführenden Online-Schlagzeile „Holger Stenger von neuem Ortsverband der AFD-“ der Regionalzeitung geschockt und verärgert. Sauer, dass er sich so klar gegen rechts positionieren muss, auch wenn die Redakteure sich bereits entschuldigt haben, dass die „Abspaltung“ hinter der Bezahlschranke versteckt war. „Ich habe gar keine Lust mich gegen etwas zu verteidigen, was ich gar nicht bin.“ Aber für manche, viele?, nun eben doch, oder auch nur vielleicht doch, oder sie wissen auf einmal nicht mehr so genau, was sie jetzt denken sollen. Weil sie nie von der LKR gehört haben und bei der Regionalzeitung nur lesen: AFD, denn das „-Abspaltung“ steht ja schon hinter der Bezahlschranke. Doch selbst eine solche kann schon Skepsis wecken, denn die AFD kann für jeden demokratisch und menschenfreundlich denkenden Menschen nur zutiefst verstörend, spalterisch sein.
Holger Stenger hat nun gut zu tun, sich zu erklären.

Was ist das für eine Kleinpartei, der der 59-Jährige sich da angeschlossen hat? Bernd Lucke trat nach einem internen Richtungsstreit 2015 aus der AFD aus und gründete die „Allianz für Fortschritt und Aufbruch“. Um die Abkürzung gab es einen Namensstreit, seitdem nennt sich die Partei „Liberal-Konservative Reformer“, kurz LKR. Lucke war mit Unterbrechungen bis 2019 Bundesvorsitzender, heute ist er Mitglied ohne Amt. Obwohl die LKR einige Landtagsabgeordnete und einen Bundestagsabgeordneten in ihren Reihen hat – sie sind von der AFD übergetreten -, spielt sie mit ihren gut 1000 Mitgliedern aktuell kaum eine Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung. Laut einer von der Bundes-LKR in Auftrag gegebenen Umfrage kennen nur etwa sechs Prozent der Bundesbürger die Partei. Das will sie ändern. Und bei der Bundestagswahl 2021 antreten. Der Ortsverein Stadt und Kreis Aschaffenburg ist ganz neu, Ende März erst gegründet.
Öffentlichkeit hat er mit der Schlagzeile erreicht, so viel ist sicher. Nur wohl eher nicht die, die er haben wollte.
Das LKR-Programm ist wirtschafts-liberal; die Partei steht grundsätzlich hinter der Europäischen Union, will aber mehr Kompetenzen für die Nationalstaaten und sieht den Euro kritisch. Sie setzt auf eine gemeinsame europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik, bekennt sich uneingeschränkt zum Grundrecht auf Asyl, zur Genfer Flüchtlingskonvention und zu den Zielen des Pariser Klimaabkommens.
Wenn Holger Stenger diese Gedanken alle so unterschreibt, kann er nicht gleichzeitig rechtsgerichtet sein. Aber wie viele der Menschen, die ihm noch in der Nacht texten, als der Artikel der Regionalzeitung online geht, lesen den Text, hinterfragen die Nähe zur AFD und beschäftigen sich mit dem Parteiprogramm der LKR?
Holger Stengers Glück ist: Er hat in der Region einen guten Ruf, man kennt und schätzt ihn. Das zeigt die Mehrheit der öffentlichen Kommentare unter seinem Post. Verlässlich, ehrlich und treu, kommunikationsbereit und engagiert nennt man ihn dort. Keinesfalls rechts. Viele Nachrichten aufs Handy aber seien nicht so freundlich, sagt Holger Stenger.
Eine Woche später ist er schon wieder entspannter. Nichts ist so alt wie die Schlagzeile von gestern. Und, erzählt er am Telefon, er bekomme viele Anrufe mit positivem Zuspruch.
Um als Kandidat wählbar zu sein, braucht Holger Stenger nun aber erst einmal 200 Unterstützungsunterschriften von Wahlberechtigten aus seinem Wahlkreis. Diese benötigen laut Bundeswahlleiter „so genannte nicht etablierte Parteien, das heißt Parteien, die nicht im Deutschen Bundestag oder einem Landtag seit deren letzter Wahl (…) vertreten waren“.
19 Mitglieder hat der Ortsverein Stadt und Kreis Aschaffenburg, die Miltenberger Kollegen wollen sich bald anschlieβen. Die meisten seiner neuen Parteikollegen kennt Holger Stenger nach eigener Aussage schon länger; Thilo Schneider, jetzt Vereinsvorsitzender, habe ihn eines Tages angerufen und gefragt, ob er sich nicht in der LKR engagieren wolle. „Ich habe mir die Leute und die Ideen angeschaut, ob ich mir das vorstellen könnte“, erinnert sich Holger Stenger. Er konnte.
Holger Stenger als Spitzenkandidaten zu benennen war zweifelsohne ein kluger Schachzug. Von den Gründungsmitgliedern dürfte er in der Region der bekannteste sein.
Ein bunter Hund ist in Aschaffenburg gar nichts gegen Holger Stenger. Er war Vorstand der Viktoria Aschaffenburg, die in ihren besten Zeiten mal in der zweiten Bundesliga gespielt hat, macht seit 40 Jahren als Joe Cocker-Cover „Joe Schocker“ nicht nur in der Region Musik. Ganz früher war er bei der Bereitschaftspolizei, hat später vom Vater ein Tabakwarengeschäft in Aschaffenburg übernommen, das er bis heute zusammen mit seiner Frau führt, und ist in den vergangenen drei Jahren noch einmal in seinen ersten Beruf zurückgekehrt, Kaufmann bei einem regionalen Textilunternehmen. Ein Mann der tausend Leben und mit hunderttausend Bekannten.
Auch parteipolitisch ist Holger Stenger kein unbeschriebenes Blatt, obwohl es bisher für mehr als zwei Kandidaturen nicht gereicht hat. Für Kontinuität auch nicht unbedingt, und das ist im Hinblick auf das Engagement bei der LKR nicht uninteressant.
Weil er sich „kommunalpolitisch engagieren“ wollte, so drückt er sich aus, kandidierte Holger Stenger in 2014 für den Aschaffenburger Stadtrat. „Ich hätte mich auch für die Grünen aufstellen lassen, wenn sie mich gefragt hätten.“ Haben sie aber offenbar nicht, und so wurde es die FDP. Holger Stenger stand damals auf Listenplatz 3. Fast hätte es geklappt mit dem Stadtrat. Nur 29 Stimmen mehr hatte der Kandidat, der ins Gremium einzog. Sechs Jahre später trat Holger Stenger erneut an. Doch nicht mehr für die FDP, das war nicht die ganz groβe Liebe. Dieses Mal stand er auf der Liste der CSU, Platz 19, und wer denkt, dass der Aschaffenburger Wähler dieses Bäumchen-Wechsel-Dich abgestraft hätte, der irrt. Zwar verfehlte Holger Stenger den Sprung in den Stadtrat dieses Mal deutlich. Doch sammelte er zweieinhalb Mal so viele Stimmen wie sechs Jahre zuvor. Probleme mit Glaubwürdigkeit und Authentizität scheint Holger Stenger also zumindest in der Region nicht zu haben.
Die wird er noch brauchen, wenn er im Wahlkampf mit Menschen reden wird, die nicht seine Freunde und Bekannten sind.
Aus der CSU trat Holger Stenger dann wieder aus (in der FDP war er gar nicht erst drin). Aber warum ist für ihn als politische Alternative eine AFD-Abspaltung attraktiv?
„Also“, sagt er. „Erstens sehe ich sehe mich als liberal-konservativ, und zwar konservativ im besten Sinne des Wortes.“ „Bewährtes bewahren und alles andere für die Zukunft optimieren“: Das ist für ihn konservativ. In der LKR sehe er sich da gut aufgehoben. In der FDP fühle er sich schon länger, in der CSU spätestens seit der Corona-Krise nicht mehr zu Hause. „Die Politik hat mit der Lebensrealität zu vieler Menschen nichts mehr zu tun.“ Er kennt Dutzende Menschen, denen die Pandemie ihre Lebensgrundlage genommen hat, Künstler, Gastronomie und den Einzelhandel vor allem; es geht ihm selbst nicht wirklich gut, er ist in Kurzarbeit. Er kann keine Auftritte spielen, das Tabakgeschäft läuft schon seit dem Nichtraucherschutzgesetz mies und jetzt erst recht. „Von irgendetwas müssen die Leute doch leben. Die wollen nicht Grundsicherung beantragen, die wollen arbeiten.“
Das ist sein groβes Thema. Was ihn an der aktuellen Situation stört, wo für ihn die Probleme liegen, inwiefern die Politik aus seiner Sicht versagt, das analysiert er sehr genau – und versteht seine Haltung so zu vermitteln, dass viele Menschen sie verstehen. Ein gutes Beispiel ist einer seiner Facebook-Posts, Peinlichkeit hat er ihn genannt, weil er so vieles peinlich findet, was politisch und gesellschaftlich in Deutschland seit Beginn der Corona-Pandemie passiert. Der Post wurde mehr als 10.000 Mal geliked und mehr als 11.000 Mal geteilt. Holger Stenger schreibt sich darin seinen ganzen Frust über die Corona-Gesellschaft, ihre Fallstricke und Auswüchse – zerstörte Existenzen, Jugendliche ohne Jugend, Lockdown ohne Wirksamkeit – von der Seele.
Die Analyse läuft also, aber wie sieht es mit Verbesserungsvorschlägen aus? Holger Stenger hält sich da im Moment noch zurück. Das ist für eine Bundestagskandidatur noch ein bisschen wenig.
Und zweitens? Er sei kein Rechter. Im Gegenteil. „Irgendjemand muss doch die Leute wieder aus der AFD rausholen“, sagt er. „Ich möchte mit allen Menschen reden dürfen und wenn ich sie im falschen „Lager“ verordne, dann möchte ich sie mit Argumenten zurückholen und nicht durch Stigmatisierung noch tiefer dorthin treiben.“
Und, sagt er: „Ich wollte nie spalten. Ich will immer integrieren.“
Die LKR distanziert sich von allen rechten und rechtsextremen Tendenzen. Auch Holger Stenger ist nach der Zeitungs-Headline ganz gut damit beschäftigt zu distanzieren. Nämlich sich selbst vom rechten Image, das der LKR als AFD-Abspaltung – möglicherweise – anhaftet. Die Reaktion auf die Headline hat ihm einen Vorgeschmack darauf gegeben, was ihn in den kommenden Monaten an Diskussionen erwarten könnte, falls die Sprache auf die Abspaltung kommt. „Jeder der mich kennt weiß, dass ich mich gerne politisch engagiere“, sagt er. „Ich informiere mich, lese viele Zeitungen, engagiere mich in allerlei Projekten ehrenamtlich und gehe im Normalfall keiner Diskussion aus dem Weg.“ Ob er sie mit Menschen führen wird, die tief einsteigen wollen in inhaltliche Debatten und bereit sein werden, zu hinterfragen?
Hat er unterschätzt, dass man als LKR-Mitglied auch gegen das Ex-AFD-Image anreden muss? Wie glaubwürdig diese bundes- und lokalpolitisch bisher nahezu völlig bedeutungslose Kleinpartei noch werden wird, ob sie überhaupt jemals eine Relevanz haben wird, hängt stark von einzelnen Köpfen und deren Ideen zu relevanten Themen von der Energiepolitik über den Klimaschutz bis hin zur Integrations- und Wirtschaftspolitik ab. Und davon, wie nachhaltig und ausdrücklich sie bereit sind, sich immer und immer wieder von den Inhalten der AFD zu distanzieren. In Aschaffenburg ist jetzt Holger Stenger einer dieser Köpfe.
Schon zwei Mal hat der 59-Jährige Wahlkampf gemacht. Er plant ihn auf seine Weise. Im April oder Mai will er erst einmal für vier, fünf Wochen nach Athen, zur Wiege der Demokratie. An die 3500 Kilometer mit dem Fahrrad, zurück mit dem Zug. Nun gut, daraus wird wahrscheinlich eher nichts werden. Er müsste acht Grenzen überqueren, jeden Tag eine neue Unterkunft finden, und das mitten in einer Pandemie, die einfach kein Ende nehmen will. Ziemlich unwahrscheinlich. Im Ortsverein hätten sie schon Schnappatmung bekommen, als sie von diesen Plänen hörten, man sei doch mitten im Wahlkampf, sagt Holger Stenger. Er findet: „Das ist mein Wahlkampf.“
Es ist wohl unwahrscheinlich, dass Holger Stenger das Direktmandat gewinnen wird. Im September wird er aber um sehr viele Erfahrungen reicher sein. Vielleicht wird er dann neu entscheiden, ob die LKR seine Partei bleiben wird. Wenn Holger Stenger eines in seinem (politischen) Leben gezeigt hat, dann das: Er lässt sich ungern fürs Leben festlegen.