Lehrerin auf Zeit


Datum: 12. May 2021
Autor: Susanne von Mach
Schlagwörter: Schule Grundschule Team-Lehrerin Lernen

Der Anruf kommt mitten auf dem Berg. Katrin Zenglein wandert gerade mit einer Freundin in den Allgäuer Alpen bei Deutschlands südlichstem Dorf, als ihr Handy klingelt. Es ist schönstes Augustwetter in Oberstdorf, herrliche Weitsichten ins Alpenvorland liegen unter ihr. Beste Aussichten mit einem Mal vor ihr. Sie könne als Teamlehrerin an einer Grundschule im Landkreis Aschaffenburg anfangen, sagt eine Mitarbeiterin des Schulamts Aschaffenburg. Mit Jahresvertrag, Jobbeginn zum Start des neuen Schuljahres.
Und so steht die 35-Jährige am 13. September 2020 zum allerersten Mal in ihrem Leben vor einer Grundschulklasse.

22 Jungen und Mädchen sind jetzt ihre Schüler, und was sie machen soll mit den Zweitklässern, das dirigiert die eigentliche Klassenlehrerin quasi aus dem Off. Denn Katrin Zenglein hat zwar Gymnasiallehramt studiert, doch kein Staatsexamen gemacht, nie in einer Schulstunde hospitiert, nie selbst eine Schulstunde gehalten, bekommt keinen Einführungskurs. „Ich konnte nirgends etwas abschauen“, sagt die Aschaffenburgerin. „Ich musste sofort loslegen.“ Jetzt, mehr als ein halbes Jahr später, kann sie sagen: „Es hat funktioniert und es macht mir Spaβ.“ Auch, weil sie hervorragend angeleitet wurde.

Team-Lehrer sind eine bayerische Kreation für das Schuljahr 2020/21, Bayerns Antwort auf die Corona-Krise.

Die Idee ist entstanden aus Fürsorgepflicht denjenigen Lehrerinnen und Lehrern gegenüber, die einer Risikogruppe angehören oder schwanger sind und deshalb nicht mit den Schülern in Kontakt kommen sollen. Bayerns mobile Reserve – Lehrkräfte, die bei Bedarf einspringen und eine Klasse übernehmen – ist viel zu klein, um deren Ausfall zu kompensieren. Ohnehin gibt es trotz Neu-Einstellungen auch zum Schuljahr 2020/21 eher zu wenige Lehrer für die 2407 bayerischen Grundschulen, freiwerdende Stellen zu besetzen ist schwierig. Das ist kein singuläres Problem des Freistaats, der mehr als 37.000 Lehrer beschäftigt, 90,5 Prozent davon Frauen. Die Bertelsmann-Stiftung ermittelte in einer 2019 veröffentlichten Studie, dass bis zum Jahr 2025 – also in vier Jahren – deutschlandweit mindestens 26.300 Lehrer allein an Grundschulen fehlen werden. Und als die Studie erhoben wurde, war noch keine Pandemie. Deshalb also Team-Lehrer: Studierte, die den Unterricht halten sollen, den die Stamm-Lehrkraft vorbereitet hat. 800 Stellen hat der Freistaat zu Beginn des laufenden Schuljahres geschaffen, wichtigstes Bewerbungskriterium: ein abgeschlossenes Hochschulstudium, egal welcher Fachrichtung. Pädagogische Erfahrung: Wäre schon ganz schön. Angeleitet durch die Stammlehrkraft sollen die Team-Lehrer den Unterricht halten. Schule – kann ja jeder?

„Wir Lehrer hatten erwartet, dass sich auf diesen Aufruf vor allem Bewerber mit Lehramtsstudium melden oder Lehrer, die aus welchen Gründen auch immer keine Anstellung bekommen haben“, blickt Christiane Dankert zurück, Konrektorin und Zweitklass-Lehrerin an der Wilhelm Emmanuel von Ketteler Grundschule Kleinostheim. Doch dem ist nicht so. Auch zum Beispiel Juristen, Tierärzte und Wirtschaftswissenschaftler wollen Team-Lehrer werden. Einfluss darauf, wen sie zugewiesen bekommen, haben die Schulen nicht. Einfluss darauf, wie es an den Schulen läuft mit den Team-Lehrern, nimmt das Staatsministerium für Unterricht und Kultus nicht. Wird schon, scheint man sich zu sagen.

6500 Interessenten haben sich auf dem Portal registriert, das die Staatsregierung extra für die Team-Lehrer-Anmeldung bereitgestellt hat. Stand Ende April waren laut Bayerischem Staatsministerium für Unterricht und Kultus „rund 1.400 Personen im Umfang von rund 710 Vollzeitstellen als Team- oder Aushilfslehrkraft im Einsatz, darunter rund 550 im Umfang von rund 350 Vollzeitstellen an Grund- und Mittelschulen“. Insgesamt 170 Team-Lehrer sind in Unterfranken eingesetzt. Eine von ihnen ist Katrin Zenglein.

Die holt auf dem Berg über Oberstdorf erst einmal tief Luft. Ihre Bewerbung auf dem Portal ist vier Tage alt, mit einem so raschen Anruf hat sie nicht gerechnet. Dann geht alles ganz schnell. Wieder zu Hause, gibt die Grundschullehrerin in spe ihre Unterlagen im Schulamt ab, ein paar Tage später wird sie zurückgerufen. Man wolle sie einstellen. Sie müsse aber jetzt sofort entscheiden, ob sie in Mömbris, Kleinostheim oder als mobile Reserve unterrichten wolle.

Als Springer von Schule zu Schule in der mobilen Reserve? Das traut sich Katrin Zenglein nicht zu. „Dafür braucht man Erfahrung.“ Mömbris ist ihr zu weit weg, alle Wege von ihrem Wohnort Aschaffenburg aus erledigt sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuβ oder mit dem Rad. „Kleinostheim passte da gut.“ Trotzdem erbittet sie sich einen Tag Aufschub für ihre Zusage, um mit ihrem aktuellen Arbeitgeber zu sprechen. Die 35-Jährige unterrichtet Deutsch für Migranten an einer privaten Sprachschule in Aschaffenburg, ihre Schüler kommen aus Syrien, Russland oder der Türkei. Der Chef ist – Glück für sie – kulant, Katrin Zenglein unterrichtet künftig nur noch nachmittags. Ihr Ja zur Grundschule sei eine „Hau-Ruck-Entscheidung“ gewesen, sagt sie. Vereidigt wird sie „in der Woche vor Schulbeginn in meiner halbstündigen Mittagspause zwischen meinen Sprachkursen“.

Und dann geht es los. Vormittags hält Katrin Zenglein seit September die 21 Schulstunden von Christiane Dankert. Die Konrektorin bleibt in ihrem Büro, ist traurig, dass sie als Angehörige einer Risikogruppe ihre Zweitklässer nicht mehr selbst unterrichten darf und schreibt stattdessen seitenweise und minutengenaue Anleitungen für ihre Team-Kollegin, wie sie den Unterricht halten soll. Denn Katrin Zenglein hat ja trotz bester Absichten und Motivation keine Ahnung, wie das eigentlich geht, unterrichten an der Grundschule.
Ohne die Corona-Pandemie wäre die 35-Jährige niemals auf die Idee gekommen, an einer Grundschule zu unterrichten, sagt sie. Nach dem Abitur am Hanns-Seidel-Gymnasium in Hösbach und einem Work & Travel-Jahr in Australien studiert sie Gymnasiallehramt in Würzburg, Augsburg und Australien, Englisch und Deutsch. „Ich habe zwar meinen Bachelor gemacht, das Studium dann aber nicht konsequent bis zum Staatsexamen durchgezogen“, erzählt sie offen. In Australien lernt sie einen Unternehmer kennen, er bietet ihr einen Job in seiner Firma in London an. Ein Jahr lebt Katrin Zenglein in Groβbritanniens Hauptstadt, „doch London ist für mich keine Stadt fürs Leben“.

In 2015 kehrt sie zurück nach Deutschland. Es ist das Jahr der europäischen Flüchtlingskrise, Hunderttausende Menschen fliehen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Lehrer für Deutsch-Kurse werden dringend gesucht; Katrin Zenglein beginnt an der Sprachschule in Aschaffenburg zu unterrichten. „Das macht mir viel Spaβ, ich unterrichte interessante Menschen.“ Es hätte so bleiben können.
Doch dann entdeckte ihr Vater in einer Annonce den Aufruf des Kultusministeriums, sich als Teamlehrer zu melden, drängt seine Tochter sich zu bewerben. Auf dem Weg in den Urlaub nach Oberstdorf füllt Katrin Zenglein den Bewerbungsbogen aus, „am Handy, im Auto.“ Und dann kommt mitten auf dem Berg der Anruf.
War sie aufgeregt vor ihrem ersten Schultag in der Grundschule? Nein, sagt die 35-Jährige. „Aber die ersten zwei Wochen haben sich angefühlt wie Sport, ich war am Ende des Tages total erschöpft.“ Damals, im September, dürfen sich die Lehrer noch in der Klasse bewegen, den Kindern über die Schulter schauen. „Man steht viel und ist viel in Bewegung.“ In die neue Aufgabe wirft sie sich hinein.

In Christiane Dankert findet Katrin Zenglein eine geduldige, unermüdliche Lehrerin. Mit ihren 65 Jahren hat die Konrektorin fast 40 Jahre Erfahrung im Unterrichten, und die gibt sie bis ins Detail an ihre Team-Kollegin weiter. „Manchmal ist es mir fast peinlich, wie pingelig ich anleite“, sagt sie, doch Katrin Zenglein ist „dankbar für jeden Tipp, für jede Hilfestellung“. Andere Team-Lehrer haben nicht so viel Glück mit ihrer Stamm-Lehrkraft; sie berichten, sie stünde ohne jede Anleitung vor der Klasse und müssten sich den Unterricht komplett selbst erarbeiten.

Christiane Dankert macht das anders, sie plant jeden einzelnen Schritt für die Team-Kollegin vor, jede Begrüβung, jedes Tafelbild, jeder Hefteintrag vom Datum über die Überschrift bis hin zur Platzierung der Leerzeilen, jeden Schwung bei der Schreibschrift, die die Zweitklässer jetzt lernen sollen, die Rechenwege für den Hunderterraum, die Lektionen zu Obst und Gemüse, die Erklärungen zur deutschen Grammatik. Für sie sei das genauso viel Arbeit wie Unterrichten – wenn nicht sogar mehr, sagt Christiane Dankert. „Doch anders würde es nicht funktionieren. Als Lehrer darf man nicht schwimmen, das merken Schüler sofort und werden selbst unsicher.“

Dass ihre Anleitung funktioniert und wo sie noch genauer in ihrer Anleitung werden könnte, sieht sie an den Hefteinträgen und Arbeitsblättern ihrer Schüler, die sie – zumindest in den ersten Monaten des Schuljahres – alle selbst korrigiert. Mit den Ergebnissen ist sie sehr zufrieden. „Katrin Zenglein war für uns ein Glücksfall“, sagt Christiane Dankert. „Sie hat eine natürliche Begabung im Umgang mit den Kindern.“
Davon lassen sich auch die Eltern überzeugen. Sie sind anfangs skeptisch, ob ein Team-Lehrer das Richtige ist für ihre Kinder. Schule wird schnell zum Reizthema, alle wollen das Beste für ihr Kind und meinen häufig sehr genau zu wissen, wie das Beste auszusehen hat. „Ich bin froh, dass es überhaupt jemanden gibt, der den Präsenz-Ausfall von Frau Dankert seit September versucht zu kompensieren und die Kinder nicht alle paar Wochen eine neue Vertretung haben, wenn sie mal wieder in die Schule gehen dürfen“, sagt Klassenelternsprecherin Dominique Bukh. „Ich denke, dass diese Beständigkeit für die Kinder in der aktuellen Situation unglaublich wichtig ist.“

Auch die Lehrerin für Werken & Gestalten an der Kleinostheimer Grundschule bekommt eine Tierärztin an die Seite gestellt, ohne Unterrichtserfahrung an der Grundschule. Die Verpflichtung kommt so kurzfristig, dass die Team-Lehrerin die erste Stunde halten muss, ohne überhaupt mit der Lehrerin gesprochen zu haben. Die WG-Lehrerin unterrichtet die gesamte Schule, alle Klassen aller Jahrgangsstufen. „Mein Fach ist mehr als Basteln“, sagt sie. Die Schüler stricken, häkeln, flechten, arbeiten mit Holz, Ton und Metall.
Die Team-Lehrerin beherrscht diese vielfältigen Techniken nicht; die Stammlehrerin dreht deshalb zu Hause Videos, in denen sie die Schüler anleitet. Auch sie schreibt minutengenaue Anleitungen für die Tierärztin, wie sie die Stunden aufbauen muss, die Schüler anleiten und motivieren kann, wie sie den Werkraum in Minutenschnelle desinfizieren und für die nächste Klasse herrichten kann. „Da ich die Klassen nur ein Mal pro Woche sehe, muss jede Stunde in sich geschlossen sein“, sagt die Fachlehrerin. „Man kann nicht einfach einen nicht erledigten Arbeitsschritt aufs nächste Mal verschieben.“ Eine enorme Anstrengung für beide – und als es gerade läuft, wird die Team-Lehrerin vom Schulamt abgezogen und an eine andere Grundschule versetzt. Der Unterricht läuft seitdem vollständig digital.

Versetzt zu werden, das wird Katrin Zenglein nicht passieren, auch wenn es wegen zu hoher Infektionszahlen seit Dezember nur selten Präsenzunterricht gab. Sie arbeitet nun in der Notbetreuung, wieder eine neue Erfahrung. Grundschulpädagogik hat sie seit September im Schweinsgalopp gelernt. „Meinen erwachsenen Schülern in der Sprachschule kann ich sagen, dass sie zum Lernen hier sind und bitte Einsatz zeigen sollen“, sagt Katrin Zenglein. „Bei Kindern ist das anders.“ Die müssten erst einmal lernen zu lernen, sich zu strukturieren und überhaupt zu lernen.

Auch Katrin Zenglein lernt jeden Tag dazu. „Es war mir zum Beispiel nicht klar, dass in der Grundschule jedes Arbeitsblatt und jeder Hefteintrag korrigiert werden muss.“ Das Fachliche sei nicht das Problem. Was in der zweiten Klasse gelehrt wird, sind Grundlagen der Allgemeinbildung. Doch Schüler muss man empathisch, dabei konsequent führen können. „Man muss jedes Kind so nehmen, wie es ist, und mit ihm auf das Ziel hinarbeiten, dass es etwas lernt“, sagt Katrin Zenglein.

Das Unterrichten gefällt ihr, sehr sogar. „Die Herzlichkeit der Kinder, das positive Feedback, dass man auch einmal zusammen Quatsch machen kann: Das gefällt mir am besten“, sagt sie. „Und wenn ich merke, dass die Kinder etwas gelernt haben.“

Katrin Zengleins Vertrag läuft noch bis August 2021. Sie könnte sich gut vorstellen auch künftig an der Grundschule zu unterrichten. „Ich mag die Herzlichkeit der Kinder, ihre unmittelbaren Rückmeldungen.“
Im Moment recherchiert sie Möglichkeiten, wie das klappen könnte. „Die Mittel zur Beschäftigung von Teamlehrkräften stehen bis zum Ende des Schuljahres 2020/2021 zur Verfügung“, informiert Andreas Tabbert vom Kultusministerium, „so dass der Einsatz nach derzeitigem Stand auf das aktuelle Schuljahr beschränkt ist. Eine darüberhinausgehende Beschäftigung von Teamlehrkräften wird geprüft. Unabhängig hiervon haben Teamlehrkräfte, die eine Weiterbeschäftigung anstreben, die Möglichkeit, sich für das Schuljahr 2021/2022 als reguläre Vertretungskräfte an Bayerns staatlichen Schulen zu bewerben.“ Vielleicht ist also Katrin Zengleins neue Karriere an Bayerns Schulen noch nicht vorbei. Man hat ihr schon signalisiert, dass an der Mittelschule etwas gehen könnte.