Wir durften eine Familie sein


Datum: 05. May 2021
Autor: Susanne von Mach
Schlagwörter: Hebamme Kinderpalliativteam Schwangerschaft Geburt Trauerarbeit

Zwei Tage hat das Baby gelebt. Seine Mama und sein Papa durften es kennenlernen, nach Hause bringen, es kuscheln, umsorgen. Durften es geborgen und behütet verabschieden. Theresia Rosenberger kam dazu, als das Kind in den Armen seiner Eltern starb, und sie sagt: „Es war alles so, wie die Eltern es sich gewünscht hatten. Wenn man als Hebamme in einer solchen Situation das Gefühl hat, dass man gar nicht gebraucht wird und fast stört, dann ist alles richtig so, wie es ist.“
Theresia Rosenberger hat diesen zärtlichen Abschied mit vorbereitet.

Sie hat während der Schwangerschaft viele intensive Gespräche mit den Eltern geführt, Raum für Entscheidungen eröffnet. Das Baby hatte einen unheilbaren Herzfehler; dass es sterben wird, war den Eltern schmerzlich bewusst. Sie haben sich dagegen entschieden, die Geburt vorzeitig einzuleiten. Sie wollten jeden Tag der Schwangerschaft bewusst erleben, die wenigen Stunden mit ihrem Kind liebevoll gestalten.
Seit eineinhalb Jahren begleitet die Hebamme gemeinsam mit einer Neonatologin – einer auf die Versorgung von Früh- und Neugeborenen spezialisierten Kinderärztin – und einer Teamassistentin Eltern, deren Babies entweder schon im Mutterleib oder bald nach der Geburt versterben werden, weil sie schwere Fehlbildungen lebenswichtiger Organe haben oder mit dem Leben unvereinbare Chromosomen-Anomalien. Die drei Frauen bilden das Pränatal-Team im Kinderpalliativteam Südhessen, das schon seit neun Jahren lebensverkürzt erkrankte Kinder und ihre Familien im Regierungsbezirk Darmstadt betreut. Mehr als 400 Jungen und Mädchen vom Säugling bis zum angehenden Erwachsenen waren es in dieser Zeit. Immer wieder haben sich in diesen Jahren auch werdende Eltern an das Kinderpalliativteam gewandt, weil ihr Ungeborenes eine mit dem Leben unvereinbare Entwicklung genommen hatte.

Die Pränatal-Diagnostik ist heute so präzise, dass Anomalien in der Regel beim Screening entdeckt werden und Eltern dieser besonderen Kinder mitten in der Schwangerschaft vor schwerste Entscheidungen gestellt werden. Die Schwangerschaft beenden oder der Natur ihren Lauf lassen? Das Baby auf die Welt bringen, um sich von ihm verabschieden zu müssen? Eine existenzielle Ausnahmesituation für werdende Eltern, in der das Pränatal-Team ihr Anker werden kann.
Die Leiter des Kinderpalliativteams – Kinder- und Palliativärztin Dr. Sabine Becker und Palliativ Care Fachkraft Holger Fiedler – haben es gegründet, um Neugeborene mit lebensverkürzenden Diagnosen noch besser versorgen und ihre Eltern vor der Geburt intensiver begleiten zu können. Bis dahin hatten die Ärzte und Pfleger des Teams werdende Eltern beraten, obwohl sie dafür strenggenommen keinen Versorgungsauftrag haben; dieser beginnt, sobald die Kinder auf der Welt sind. „Doch der Bedarf ist da“, sagen Sabine Becker und Holger Fiedler. Bedarf, einen Blick auf diese besonderen Kinder und ihre Eltern zu haben, der nicht nur von medizinisch Möglichem und Machbarem geleitet ist. Sondern auch davon, was wünschenswert ist, damit die Eltern den Verlust ihres Kindes „im Frieden mit ihren Entscheidungen“ akzeptieren könnten, sagt Holger Fiedler. „Es ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe werdenden Eltern andere Wege als den Schwangerschaftsabbruch aufzuzeigen“, sagt Sabine Becker.
Im Pränatal-Team finden diese Eltern nun Ansprechpartner, die auf ihre besonderen Bedürfnisse und Fragen spezialisiert sind. Es ist das erste seiner Art und Theresia Rosenberger die erste Hebamme bundesweit, die in einem Kinderpalliativteam mitarbeitet. Das Team ist als spendenfinanziertes Projekt konzipiert, auch, um den Bedarf bei den Krankenkassen zu belegen – die Voraussetzung für eine Kassenfinanzierung der Beratungs- und Versorgungsleistung durch ein Palliativteam. „Das ist aber noch ein langer Weg“, sagt Holger Fiedler.
Die zentrale Funktion des Pränatal-Teams ist die Beratung. Im Moment einer lebensbedrohenden Diagnose für sein ersehntes Baby so weit zu denken und zu planen, „dass man als Eltern alle Konsequenzen überblicken kann, das schafft man in aller Regel nicht“, sagt Hebamme Theresia Rosenberger. „Deshalb braucht es Menschen, die neutral und wertfrei alle Möglichkeiten beleuchten. Eltern müssen alle Szenarien kennen und auf dieser Basis eine informierte Entscheidung treffen. Es kommt nicht darauf an, wie diese Entscheidung aussieht. Sondern dass sie möglich war.“
Die Eltern des Babys mit dem schweren Herzfehler haben sich gegen eine Operation entschieden, die das Leben ihres Kindes verlängert, aber nicht gerettet hätte. Aktuell betreut das Kinderpalliativteam Südhessen aber auch eine Familie, die einen anderen Weg gegangen ist. Sie hat ihr Kind operieren lassen, obwohl die Operation den Herzfehler nicht heilen konnte, um mehr Zeit mit ihrem Kind zu gewinnen. Und manche Eltern entscheiden sich nach der Beratung für einen Abbruch der Schwangerschaft.
„Alle Entscheidungen waren richtig, weil sie für die Familien stimmig waren“, sagt Theresia Rosenberger und betont: „Palliativmedizin heiβt nicht, nichts zu tun und auf den Tod zu warten. Sondern sie bedeutet, eine würdevolle und gute Schwangerschaft, Geburt und Leben zu ermöglichen, auch wenn es keine Heilung gibt. Es ist uns ein ganz besonderes Anliegen alles dafür zu tun, dass auch schwersterkrankte und sterbende Neugeborene ihre verbleibende Lebenszeit würdevoll verbringen können.“
Die Beratung und Betreuung der Eltern werden umso bedeutender, je weiter sich die Pränataldiagnostik fortentwickelt und je mehr Screening-Optionen Eltern angeboten werden. Für viele Eltern ist diese Hochleistungsmedizin ein Segen, weil sie ihren Kindern das Leben schenkt. Ungeborene können schon im Mutterleib operiert werden; Extremfrühchen, die in der 24. Schwangerschaftswoche geboren werden, haben oft gute Überlebenschancen. Das ist die eine Seite.
„Viele Fehlbildungen werden oft erst um die 20. Schwangerschaftswoche festgestellt, wenn das Ungeborene bereits eine gewisse Gröβe erreicht hat“, sagt Theresia Rosenberger. „Das bedeutet unter Umständen, dass Eltern in einer schon weit fortgeschrittenen Schwangerschaft auf einmal vor eine schwere Entscheidung gestellt werden: Wollen sie die Schwangerschaft zu einem Zeitpunkt abbrechen, zu dem Extremfrühchen bereits die Chance auf Überleben haben, oder gehen sie weiter schwanger im Wissen, dass ihr Kind nicht oder nicht lange leben wird?“
Angeborene Fehlbildungen sind in hochentwickelten Gesellschaften die häufigste Todesursache im frühen Kindesalter. Die Inzidenz von Fehlbildungen liegt bei 4 bis 6 Prozent, mit rund 21 Prozent sind sie die häufigste Ursache für Kindersterblichkeit; etwa jedes 100. Kind kommt mit einem Herzfehler auf die Welt. Herzfehler und Anomalien bei lebenswichtigen Blutgefäβen führen die Statistik an, gefolgt von Neuralrohrdefekten – die Spina bifida, der offene Rücken, zählt dazu – und chromosomale Anomalitäten wie Trisomien. Kinder mit Trisomie 13 und 18 versterben mehrheitlich schon im Mutterleib oder kurz nach ihrer Geburt; nur etwa zehn Prozent werden etwa ein Jahr alt, wenige älter.

„Ein ungeborenes Kind hat noch keinen festen Platz in der Familie. Trotzdem müssen sich die Eltern je nach Diagnose bereits mit seinem Tod auseinandersetzen“, sagt Theresia Rosenberger. „Das steht völlig im Widerspruch zur Vorfreude auf das Baby.“
Schwangerschaft und Geburt in dieser Situation neu zu definieren und als ersten, wichtigen Schritt der Trauerarbeit zu begreifen erfordert ein Umdenken, bei dem das Pränatal-Team die werdenden Eltern behutsam begleitet. Denn worin liegt er, der Sinn, ein dem Tod geweihtes Kind auszutragen und auf die Welt zu bringen, statt die Schwangerschaft rasch zu beenden? „Die Eltern gewinnen Zeit. Zeit mit ihrem Baby“, sagt Theresia Rosenberger. „Sie haben vielleicht sogar die Chance es für wenige Minuten oder Stunden lebendig kennenzulernen. Fotos zu machen, Videos zu drehen. Und sie haben Zeit, sich in Ruhe und Würde von ihm zu verabschieden. Das ist ein entscheidender, wichtiger Teil des Trauerprozesses.“ Genauso wie die natürliche Geburt statt Kaiserschnitt, wenn das Baby schon im Mutterleib verstirbt. „Das ist der erste, wichtige und riesige Schritt um das Trauma zu überwinden, ohne sein eigenes Kind weiterleben zu müssen.“
Eltern bräuchten Zeit sich zu entscheiden, sagt auch der pflegerische Leiter Holger Fiedler. „Es ist wichtig, dass sie ihre Gründe später noch nachvollziehen können. So gelingt es, das Erlebte in die eigene Familienhistorie zu integrieren.“
Theresia Rosenberger hat selbst erlebt, was das heiβt. Vor mehr als vier Jahren, im Oktober 2016, starb ihr jüngerer Sohn Fabio mit zehn Jahren an einem bösartigen Hirntumor. Sie kennt aus schmerzhafter Erfahrung, was auf Eltern zukommt, die das SAPV-Team kontaktieren, weiβ, was noch wichtig werden wird. Als Hebamme ist sie nicht nur Spezialistin für Schwangerschaft und Geburt, sondern als verwaiste Mutter auch „Spezialistin für den Tod“, so drückt sie sich aus.
„Ich kann nicht beschreiben, wie es ist, ohne sein Kind weiterleben zu müssen“, sagt die 41-Jährige. Doch gerade diese existenzielle Erfahrung hat sie als Hebamme zum Kinderpalliativteam geführt. Schon früh hatte sie von den Plänen für das Pränatal-Team gehört und immer wieder signalisiert, wie gern sie dort mitarbeiten würde. Dass es geklappt hat, „macht mich sehr glücklich“.
Die Arbeit des Teams als Mitarbeiterin kennenzulernen, hat ihren Blick geweitet. „Ich bin immer wieder überrascht, wie weit Eltern gehen, um das Überleben ihres Kindes zu sichern“, sagt die Hebamme. „Obwohl wir manchmal von Stunden, Tagen oder Wochen reden, lassen sie in kritischen Situationen nochmals den Notarzt rufen, nochmals reanimieren.“ Den Tod zu akzeptieren und das Leben trotz der palliativen Situation nicht um jeden Preis erhalten zu wollen, das fällt nicht allen Eltern leicht.
Auch Theresia Rosenberger hat gelitten, als Fabios bösartiger Hirntumor trotz Bestrahlung und Chemotherapie weiterwuchs und sie wenige Monate nach der Diagnose wusste, dass ihr Kind sterben wird. „Mein Mann und ich hätten Fabio nicht zu noch einer und noch einer Therapie gedrängt. Fabio hat den Takt vorgegeben.“ Dass Eltern das völlig anders sehen können: Das musste die Hebamme beim SAPV-Team erst verstehen lernen.

Dennoch ist diese Arbeit für sie die konsequente Fortsetzung ihres beruflichen wie ihres Lebensweges. Nach Fabios Tod hatte sie zunächst wieder an als Hebamme gearbeitet. Doch der Traumberuf, für den sie sich schon lange vor dem Abitur entschieden hatte, machte sie nicht mehr im gleichen Maβe glücklich. Nicht die eigene Praxis, nicht die Hausgeburten, die sie als einzige Hebamme im Groβraum Aschaffenburg-Miltenberg betreut hatte. „Nach Fabios Tod hat mir die Leichtigkeit gefehlt“, sagt sie. „Ich konnte Frauen nicht mehr unbeschwert bei der Geburt begleiten.“ Auch die ständige Rufbereitschaft zehrte an ihren Nerven. „Ich bin nicht mehr so belastbar wie vor Fabios Tod.“
Die Entscheidung keine Hausgeburten mehr zu betreuen, war ein Prozess. Mit dem Stellenangebot des SAPV-Teams war er abgeschlossen. Frauen im Wochenbett betreut sie rund um ihren Heimatort Alzenau-Kälberau weiter, zwei Tage pro Woche arbeitet sie im Pränatal-Team. „Vor zehn Jahren hätte ich die Arbeit dort gar nicht leisten können“, sagt Theresia Rosenberger. „Ich wäre total überfordert gewesen. Dass ich selbst erlebt habe, wie es ist, wenn das eigene Kind stirbt, das hilft mir.“ Zunehmend wird sie im Kinderpalliativteam auch in die Begleitung der älteren lebensverkürzt erkrankten Mädchen und Jungen eingebunden. Gerade bildet sie sich in Aromapflege weiter.
Theresia Rosenberger hat vor vier Jahren den Abschied von ihrem Kind bewusst gestalten können. Auch das ist ein wichtiger Teil ihrer Arbeit im Pränatal-Team. Über die vorgeburtliche Beratung hinaus organisiert es je nach den Bedürfnissen der Eltern Unterstützung vor und nach der Geburt, hilft Erinnerungen zu schaffen. Theresia Rosenberger übernimmt Nachsorgetermine, wenn die betreuende Hebamme verhindert ist, das Team bietet Nachgespräche an, wenn das Kind bereits verstorben ist.
„Ich konnte bei einer unserer Familien dafür sorgen, dass das Baby nochmal zu seiner Mama gebracht wird. Der Papa hatte es schon gewaschen, angezogen und schön eingepackt. Wir haben Fotos gemacht und ein Onkel durfte trotz Pandemie kommen und sich von dem Baby verabschieden.“ Für das Nachgespräch fuhr das Pränatal-Team zur Familie hin – und wurde mit einem frisch gekochten Essen überrascht. „Dieser Familie war es ganz wichtig nochmals danke zu sagen.“