Hoffen auf Lässigkeit


Datum: 17. March 2021
Autor: Susanne von Mach
Schlagwörter: Abenteuer Reisen Guadeloupe Corona Extremsport

Während Deutschland darüber diskutiert, ob es sinnvoll, notwendig oder doch eher moralisch verwerflich ist über Ostern nach Mallorca zu fliegen, hat Stefan Schlett ganz andere Pläne. Er will nach Guadeloupe. Klar, da wären wir jetzt wohl alle gern. In diesem karibischen Inselparadies, mit Traumstränden, Traumwetter, Traumnatur. Wasserfälle, exotische Orchideen, sanfte Berge, üppiges Grün. Acht Mal war der Extremsportler schon auf der Antillen-Insel, die neunte Reise hatte er für April 2020 geplant. Er ist gar nicht mal scharf auf Urlaub unter Palmen. Er will sich beim „Guadarun“ quälen, 130 Kilometer geht es da in vier Tagen quer über alle sechs Inseln des französischen Übersee-Departements.

Ging im vergangenen Jahr natürlich nicht, Corona, mehr muss man dazu nicht sagen. Jetzt soll es aber bitte klappen. Am 1. April will Stefan Schlett den Startschuss beim „Guadarun“ hören.
Sowas findet statt? Nun, eventuell, im privaten Rahmen. Zu Nicht-Corona-Zeiten treffen sich um die 100 Extremsportler aus aller Welt, waten durch knöcheltiefen Sand und knietiefen Schlamm, rennen Berge hinauf und hinunter, spurten über Betonpisten. So wunderschön extremsportet es sich nicht überall. 100 Mann kommen in diesem Jahr definitiv nicht. Wenn es überhaupt was wird. „Der Organisator Lucien Datil plant ein privates Rennen mit ausgewählten Teilnehmern, damit man alle Corona-Regeln einhalten kann.“ Stefan Schlett gehört zum erlauchten Kreis, würde sogar auf Kosten des Veranstalters anreisen.
Mit Lucien Datil ist er schon lange gut befreundet. Will er deshalb dort hin? Einerseits ja, sagt er ganz offen, „ich muss mal wieder raus“. Nun, das Gefühl teilt er ganz sicher mit allen Mallorca-Urlaubern und Daheimbleibenden. Andererseits ist der Extremsport sein Job. Seit mehr als 30 Jahren jettet der 59-Jährige von der Heimatbasis Kleinostheim aus im Auftrag von Sponsoren und Special Interest-Zeitschriften zu sportlich schrägen Events dieser Welt. Ohne Extremsport kein Einkommen. Der Staat sprang im vergangenen Jahr zwar zumindest teilweise finanziell ein, doch Stefan Schlett würde lieber wieder selbst springen.
Als „Ultraschlett“ beschreibt, filmt und fotografiert er auβergewöhnliche Runs durch Wüsten, Berge und Eislandschaften. Früher ging das klassisch analog, heute hat er eine Drohne im Gepäck. Die gigantischen Naturaufnahmen aus der Höhe überwältigen ihn selbst immer wieder.
Stefan Schlett braucht diese sportliche Herausforderung, diesen Ritt über alle Grenzen, geographische, physische, psychische.
Schon mehr als einmal war er der erste, der in Deutschland über ein neues, für Normalsportliche oft geradezu absurd wirkendes Event berichtet hat. Das letzte erste Mal ist noch gar nicht so lange her: Im Februar 2020 flog er zum ersten Ecotrail nach Saudi-Arabien. China hatte gerade seine Grenzen wegen Corona geschlossen, Saudi-Arabien sie überhaupt erst geöffnet. Seit September 2019 dürfen Touristen das Wüstenland auf der Sinai-Halbinsel bereisen, vier Monate später ist Stefan Schlett da. Mit Milliarden an Petrodollars stampfte die Regierung touristische Projekte aus der Wüste, die Konzerthalle Maraya zum Beispiel. Ein komplett verspiegelter Architekturtraum, in dem sich bizarre Felskathedralen vor wüstenblauem Himmel bestaunen.
Der Trailrun-Veranstalter Ecotrail hatte den Zuschlag für ein Rennen in der historischen Oasen-Stadt al-´Ula bekommen. Das Kleinod an der Weihrauchstraße im Nordwesten Saudi-Arabiens ist Wiege orientalischer Königshäuser und Hort faszinierender Natur und Kultur: Klippen, Canyons, Schluchten, riesige Dattelplantagen, Felsengräber, frühe Siedlungen. Einst schaukelten hier Kamelkarawanen. Beim Ecotrail rennen Extremsportler, ausgestattet mit GPS, damit sie in der Wüste nicht verloren gehen. Der französische Veranstalter ist auf urbane Rennen unter nachhaltigen, ökologischen Bedingungen spezialisiert. In Saudi-Arabien gingen bei der Premiere 500 Athleten aus 47 Nationen an den Start, darunter eine Handvoll Deutsche und fast ein Drittel Frauen.
Es war indes nicht Stefan Schletts erster Trip nach Saudi-Arabien. Schon 1995 reiste er, getarnt als Geschäftsmann mit einem Visum, das er sich auf geheimen Wegen organisiert hatte, ins Land und radelte bei einem Wüsten-Rennen mit. Ein organisiertes Firmen-Event. „Das fand freitags früh in der Wüste statt, als alle Saudis zum Gebet in der Moschee waren. Das haben die gar nicht mitgekriegt.“ Er nutzte das verbotene Tun als Vorbereitung auf das härteste Radrennen der Welt, den Race Across America. „Damals gab es in Deutschland noch härtere Winter, da konnte ich nicht daheim trainieren.“ Was liegt da näher als Saudi-Arabien! Das Firmen-Rennen gewann Stefan Schlett.
Den Race Across America hat er dann nicht geschafft. Die 5000-Kilometer von der West- zur Ostküste der USA waren eine Spur zu heftig. Es war eines der ganz wenigen Male, dass Stefan Schlett an sich selbst gescheitert ist. „Ich habe es kein zweites Mal versucht.“ Auch zwanzig Jahre später mit dem Fahrrad über den zugefrorenen Baikalsee in Sibirien zu fahren war keine gute Idee. „Zu viele Eislöcher, es wurde zu gefährlich.“ Die Niederlage auf dem tiefsten See der Welt wollte er aber nicht auf sich sitzen lassen. Schon sechs Mal hat er zusammen mit einem Sparrings-Partner das faszinierende Eisuniversum auf dem „schönsten See der Welt“ herausgefordert, 30 000 Quadratkilometer groβ. Statt mit dem Mountainbike bezwangen die beiden den See, der bis in den Mai hinein zugefroren ist, auf Schlittschuhen. Im Sommer hat Stefan Schlett den See noch nie gesehen.
Eislaufen: Eine völlig neue Erfahrung für den Ultra-Extremsportler. Auf Schlittschuhen hatte er noch nie zuvor gestanden. Nach ein paar Trainingsrunden in der Aschaffenburger Eissporthalle traute er sich die 400 Kilometer von Ufer zu Ufer auf Kufen zu. „Meine letzte Reise in der alten Zeitrechnung.“ Als er in Sibirien ankommt, ist Corona schon eine Meldung aus dem fernen China. Doch am Baikalsee, sieben Zeitzonen weiter östlich, bleibt das Virus eine ferne Meldung, die man noch nicht so richtig einordnen kann. „Das Leben auf und mit dem Eis beschwerte uns ein Leben in paradiesischer Unwissenheit. Kein Internet bedeutete keine Schlagzeilen, keine Nachrichten, keine Talkshows.“
Kaum wieder in der Zivilisation, acht Kilo Lebendgewicht leichter, wirken die Nachrichten regelrecht erschlagend. „Noch war Sibirien nach der Antarktis der zweitsicherste Platz auf der Welt“, doch nicht mehr lange, das ist Stefan Schlett klar. Spannende Frage: Wird er es noch raus schaffen aus Russland? Er bleibt locker. „In dreieinhalb Jahrzehnten sportlichen Nomadentums habe ich schon widrigere Situationen bewältigt.“ Hätte er jedes Mal die Flinte ins Korn geworfen, wenn die Bedingungen schwierig sind, er wäre wohl nicht weit gekommen. Am Tag, als das Visum ausläuft, schafft Stefan Schlett es von Moskau aus mit dem Nachtflug nach Berlin. Wieder drin in Deutschland! Hurra! Wieder raus, fürs nächste Abenteuer? Das steht erstmal nicht zur Debatte.
Im Corona-Jahr hat Stefan Schlett seine Kreise kleiner gezogen. „Ich habe festgestellt, dass es auch rund um meine Heimat Kleinostheim viele Wege gab, die ich noch nicht kannte.“ Er findet sie, die Mikroadventures vor der Haustür. Marathons durch den Wald, 1600-Meter-Bahnen schwimmen im Main, Radrennen im Spessart: Was im Ausland Spaβ macht, ist auch zu Hause fein. Natürlich reist er trotzdem, sobald die Kontaktbeschränkungen gelockert werden. Die erste Reise nach dem ersten Lockdown führt ihn im Juni auf ein Inselparadies. Ein deutsches. Auf Wangerooge läuft er einen privaten Marathon. Die Ostfrieseninsel ist zwar klein, aber wenn man oft genug im Kreis rennt, kommen auch 42,2 Kilometer zusammen. „Nicht mehr in die Ferne reisen zu können ist nicht so schlimm. Nur ungewöhnlich für mich“, sagt er. „Es ist ein Schicksal, das ich mit vielen anderen Millionen Menschen teile. Ich sehe das ganz pragmatisch.“
Trotzdem sagt er auch: Reisen ist nicht verboten. Der „Guadarun“ zum festen Termin ist für ihn der unaufschiebbare berufliche Grund, den er als Legitimation für die Einreise braucht. Stefan Schlett muss sich noch entscheiden, wie weit er gehen will. Was Sinn macht. Und möglich ist. Man kann nicht mehr gut planen in diesen Zeiten.
Noch ist der Extrem-Wettkampf auf den Antillen nicht abgesagt. Doch dass er stattfindet, ist damit noch lange nicht gesagt. Im vergangenen Jahr war Corona schneller, in diesem Jahr hätte gern Stefan Schlett die Nase vorn. Er kennt alle Reisewarnungen, hat schon zwei Mal seine Flüge umgebucht, sich mit allen Bestimmungen zu PCR-Tests und Quarantäne auseinandergesetzt. Er hofft. „Wenn Guadeloupe bis zu meiner Abreise noch geschlossen wird, dann kann die Reise natürlich nicht stattfinden“, sagt er. „Meine Hoffnung beruht aber auf den Erfahrungen, die ich mit den lässigen Franzosen und besonders denen in den Überseedepartments gemacht habe.“ Trotzdem bin ich „instinktiv skeptisch, was das Jahr 2021 angeht.“ Wir werden sehen.